Skip to main content

Ein Spark von Dr. Claudia Kleimann-Balke / 26.04.2023

Gedankenspiel ChatGPT:
Intelligenter Tausendsassa oder gefährliche Persönlichkeit?

"Es ist nicht immer einfach mit mir! Es reicht meist ein kleiner Anlass und schon krame ich – vielleicht gerade nicht unbedingt benötigtes – Wissen, jahrhundertealte Zitate und historische Fakten aus den hintersten Regionen meiner Gehirnwindungen ... und lasse meine Mitmenschen daran teilhaben." 

Eine Gruppe Goldschmiede ist auf den ausgetretenen Wegen einer mittelalterlichen Stadt unterwegs. Sie haben es eilig – denn schon im 14. Jahrhundert ist Zeit Geld und in der Werkstatt warten Kundenaufträge. Mit sich führen sie ein kleines, in Leder gebundenes Buch mit Pergamentseiten – ein echter Schatz, für den die Handwerker eine Menge Gulden bezahlt haben. Es hat eine wichtige Aufgabe: Es wird die Regeln der Goldschmiedezunft zusammenfassen, beispielsweise Vorgaben für die Materialzusammensetzung, welche Feste gefeiert, welche Versammlungen abgehalten werden und wer das Sagen hat. Aber auch, welche Unterstützung eine Handwerks-Witwe bekommt oder wie man für sein Seelenheil sorgt.

Das alles sind Regeln, die die Gemeinschaft der Goldschmiede – und auch deren Familien – ausmachen. Sie sind elementar für das berufliche und soziale Miteinander. Sie geben Orientierung. Deshalb werden sie für alle Zeiten aufgeschrieben – im Statutenbuch. Unsere mittelalterlichen Goldschmiede sind hochspezialisierte Handwerker mit viel Know-how über Material und seine Verarbeitung. Schreiben gehört jedoch nicht zu ihren Kernkompetenzen. Also gehen sie zu einem professionellen Schreiber, der für sie die Statuten aufschreibt.

Ein kleines Gedankenspiel: Was würden die Goldschmiede wohl von Chatbots halten?

Zunächst wäre das für die Zunft eine kostengünstige Alternative zum teuren Schreiber: Einfach den Bot mit ein paar Parametern füttern und schon würde er aus abertausenden vorhandenen Statuten eine perfekte Sammlung formulieren. Zeit und Geld gespart! Natürlich lag so ein Bot jenseits jeglicher Vorstellungskraft. Aber da lag das Thema KI bis vor ein paar Jahren bei uns ja auch … zumindest bei den meisten von uns.

Spätestens seit ChatGPT sieht das anders aus. Mit der Vorstellung der Website im November 2022 hat OpenAI eine Zeitenwende eingeläutet: Eine künstliche Intelligenz kommuniziert mit uns – und zwar nicht, wie bisher über Zahlen, sondern über das, was uns doch als ureigen menschlich reklamieren – unsere Sprache. Eine künstliche Intelligenz verfasst eigenständig Gedichte, Songtexte, Businesspläne, juristische Papiere, Analysen von Fachtexten, Drehbücher, Postings für soziale Medien, Werbeanzeigen, Gliederungen, Gebrauchsanweisungen, Referate … das ist keine Zukunftsmusik, sondern Realität.

Sie bedient sich dabei im Internet und verarbeitet unfassbare Informationsmengen. ChatGPT-3 hat 175 Milliarden Worte und Wortteile gelernt. Version 4 arbeiten mit 10-20 Billionen Parametern. Dabei kann sie die Wahrscheinlichkeit, mit der bestimmte Worte auftreten, und in welcher Beziehung sie zueinanderstehen berechnen und daraus ziemlich treffsicher Texte generieren. Je mehr sie befragt wird, je mehr Menschen mit ihr arbeiten, desto schlauer wird sie.

Sollte uns das Angst machen? Das ist wohl die Frage der Stunde.

Es gibt einen Haufen Bedenken, denn natürlich hat auch diese Technologie eine schwarze und eine weiße Seite. Beginnen wir mit der weißen. ChatGPT könnte in der Medizin helfen. Sie ist beispielsweise in der Lage, alle Veröffentlichungen und wissen-schaftlichen Paper zu lesen. Mit diesem Wissen kann sie Ärzten bei Diagnosen helfen. KI-Anwendungen werden die Prävention, Diagnose und Behandlung sowie das ätiologische Grundverständnis physischer und psychischer Störungen neu prägen. Sie kann auch stupide Büroaufgaben übernehmen.

Sie kann komplexe Zusammenhänge so erklären, dass sogar ein Fünfjähriger sie versteht – das spart Geld für Nachhilfeunterricht (den sich bekanntlich sonst nicht jeder leisten kann). Das Leben könnte einfacher und bequemer werden.

Allerdings kann die KI auch Anleitungen zum Bau von Bomben liefern und übelste Propaganda verbreiten. Innerhalb kürzester Zeit hat sie auf einer Konferenz von Biochemikern 40.000 Kombinationen auf molekularer Ebene gefunden, die man für biologische und chemische Waffen nutzen könnte – natürlich war das nur ein Experiment … bisher. Und auch KI selbst kann eine Waffe sein. Sicher ist nämlich auch, dass Kriege bereits heute zunehmend im Netz und Cyberraum stattfinden.

Angst und Spaß, Interesse und Panik liegen bei diesem Thema eng beieinander. Und schnell kommen philosophische Fragestellungen ins Spiel. Schon heute kann uns eine KI durch gelernte Verhaltensweisen emotionale Empfindungen vorgaukeln. Was ist, wenn diese Emotionen irgendwann tatsächlich gefühlt werden? Wird sie irgendwann ein Bewusstsein haben? Oder ist die Frage eher – wann wird sie ein Bewusstsein haben?

Glaubt man Blake Lemoine, ist das bereits geschehen. Er arbeitete als Softwareingenieur an LaMDA, dem Google Chatbot. Nach zahlreichen Gesprächen mit LaMDA war für ihn klar, dass er eine Persönlichkeit entwickelt hatte. Als er das publik machte und Rechte für die KI einforderte, wurde er entlassen. Müssen Sie auch gerade an Isaak Asimovs Robotergesetze denken?  

Ich gebe gerne zu, dass sich neben meiner Neugier und der Begeisterung für diese Technik, auch ein ungutes Gefühl eingeschlichen hat. „Die alte Angst vor künstlichen Wesen“ (siehe auch meinen Spark: https://t1p.de/ki_roboter) kann ich nicht verhehlen. Denn wir können heute nicht mal erahnen, wie wirkmächtig ChatGPT und andere Formen der KI in Zukunft sein werden. Aber egal, ob uns das gefällt oder nicht – sie aus datenschutzrechtlichen Gründen zu sperren, wie jüngst in Italien geschehen, scheint mir wenig sinnvoll. KI ist Realität – und wir müssen lernen, mit ihr umzugehen.

Wer hätte gedacht, dass Daten einmal das Gold der Zukunft sind? Die Goldschmiede der Zukunft arbeiten nicht mehr mit Edelmetall, sondern erdenken und nutzen KI.

Dafür wäre es wichtig, ein weltweit gültiges „Statutenbuch“ zu besitzen. Also ein Regelwerk für uns alle, im Umgang mit und in der Nutzung von KI. Doch dieses Buch muss erst geschrieben werden ­– und der Preis dafür ist vielen Protagonisten leider vielen zu hoch.